Schlüsseldienst
Ich erinnere mich an verschiedene Schlüsseldienstereignisse in meinem Leben, heute kam ein weiteres dazu. Beim ersten Mal war es genau genommen kein Schlüsseldienst, das Gewerbe hatte sich noch nicht herausgebildet. Mein Opa klingelte drei Häuser weiter bei einem Nachbarn, den er dann auch sofort mitbrachte. Der Mann öffnete das Schloss in fünf Sekunden, mit Hilfe eines Dietrichs, den ich aus Edgar-Wallace-Filmen kannte. Das Ereignis war nicht ärgerlich, eher eine angenehme Abwechslung. Das Problem wurde im Handumdrehen behoben, es war beruhigend zu wissen, wie leicht sich eine verschlossene Tür öffnen ließ.
Das zweite Ereignis datiert auf die späten 1970er Jahre, es gab jetzt den Begriff ‚Schlüsselnotdienst‘. Ich musste bei einem Nachbarn klingeln, um im ‚örtlichen‘ Branchenbuch der Deutschen Post nachzuschlagen und dann zu einer Telefonzelle gehen, um den Notdienst anzurufen. Das satte, verbindliche Geräusch der Wählscheiben habe ich immer geliebt. Keine halbe Stunde, da stand er vor meiner Tür. Die Ereignisse drei bis fünf erstrecken sich über meine Studentenzeit. Es war immer spät nachts, es war immer sehr teuer. Die Schlüsseldienste hatten ihre Leistungen jetzt nach der Betriebswirtschaftslehre segmentiert und stellten Anfahrt, Nachtzuschlag, Material und Lohnkosten in Rechnung. Ärger dominiert diese Ereignisse, auch Empörung. Wie brutal der Kapitalismus die Not der Menschen ausbeutet.
Das sechste Schlüsseldienstereignis ereilte mich im neuen Jahrtausend, es gab Google, iphones und hochwertige Sicherheitsschlösser, die natürlich nur für einen höheren Preis geöffnet werden können und hinterher unbrauchbar sind oder als unbrauchbar behauptet werden, so dass man ein neues Sicherheitsschloss erwerben muss. 800 Euro also. Obwohl ich die schnellste Preisvariante gewählt hatte, dauerte die Aktion fast drei Stunden: nicht aufgrund selbstverschuldeter Unpünktlichkeit, sondern wegen Stau. Das ist höhere Gewalt, am Preis ändert das nichts. Eindeutig ein Wut-Ereignis für mich.
Das letzte Ereignis fand in Italien statt, am Comer See, wo die Früchte der Zivilisation und archaische Instinkte im Gleichgewicht sind. Hier hat es zunächst einmal drei Stunden gedauert, bis ich einen Pronto Intervento erreicht hatte, der dann versprach zurückzurufen, was aber nicht geschah. Ich war gezwungen, insgesamt fünf Stunden lang dutzende Notdienste anzurufen, die noch nicht mal ans Telefon gegangen sind, obwohl sie für meinen Click bei Google ja zahlen müssen, egal ob sie ans Telefon gehen oder nicht. Dann endlich meldet sich ein freundlicher Mann mit griechischem Akzent, er nimmt beim dritten Klingeln ab und will in einer Stunde bei mir sein.
Selbstverständlich hat er das nicht ganz geschafft, die Ora dauert immer länger als die Stunde. Aber er hat die Tür rasch geöffnet, ohne das Sicherheitsschloss zu beschädigen, ein ehrlicher Mann. Aber dann wird klar, er war auf dem Heimweg, unser Haus lag auf der Strecke, wir hatten sogar noch Glück mit insgesamt sieben Stunden Wartezeit. Immerhin Schicksal statt Kapitalismus. Schlüsseldienste sind wie Götter, sie zeigen sich oder zeigen sich nicht, sie zwingen uns ihre Launen auf, diktieren ihre Bedingungen. Wir aber stehen vor verschlossenen Türen und warten auf ein Zeichen, dann auf Erlösung.