März 2022

Ich fühle mich heute so ausgestorben. Die Welt hat sich von meinem Weltbild entfernt. Im Halbschlaf erfasste mich ein jähes Bedürfnis, Wacholder in unserem Garten zu pflanzen, ein restaurativer Akt ohne Zweifel. Bei Wacholder denke ich an Schamanen, Ausräuchern, Gin und die beruhigende Wirkung alter Rezepte. Im Unterschied zu neuen Rezepten. Am Abend zuvor war ich in einem dieser Restaurants gelandet, die ihre Speisekarte nur noch immateriell über QR-Codes zur Verfügung stellen. Um zu erfahren, was es vor Ort in der etwa vier Meter entfernten Küche zu essen gibt, müsste ich ein Signal in den Orbit schicken, mindestens 400 Kilometer hoch und wieder zurück. Da sage ich aus Prinzip: nein. Speisekarten im Netz enthüllen ihr Angebot nicht auf einen Blick, nur durch Scrollen. Man sieht immer nur Ausschnitte, keine Konturen. Die Typographie im Netz kennt nur langweilige Systemschriften, Arial und Cambria, das schmeckt nicht lecker. Ich erinnere mich an die kargen Speisekarten meiner Kindheit: Erbsensuppe, gesetzt in Optima oder Brühwurst mit Kartoffelsalat in der Univers. Ausgestorbene Schriften, ausgestorbene Gerichte. Neulich sah ich eine Poke Bowl in der Neuen Haas Grotesk, die habe ich sofort bestellt.


Elon Musk fordert Wladimir Putin zum Zweikampf um die Ukraine auf. Hier blitzt auf, was wir verloren haben, ein Duell um die Ehre, das nicht abgelehnt werden kann. Duelle gelten als barbarisch, ihre Abschaffung hatte jedoch den Preis des Verlustes der Währung Ehre im Rahmen von Konflikten. Statt um Ehre geht es heute allenfalls um eine ‚gesichtswahrende Lösung‘, ein chinesisches Konzept. Man muss nicht mehr ehrenvoll handeln, es muss nur so aussehen als ob.


Die Bundeswehr schafft F-35 Tarnkappenjets an, weil sie erstens lieferbar sind, zweitens auch wirklich fliegen und nicht nur am Boden stehen wie das sonstige Fluggerät der Bundeswehr, aber drittens auch aus Gründen der nuklearen Teilhabe, ein verwirrender Begriff. Technisch verbergen sich dahinter die Fähigkeit und der Wille eines Nato-Mitglieds, US-amerikanische Atombomben mit eigenem Gerät auszuliefern, also immerhin in Kooperation über Atomwaffen zu verfügen, ohne selbst Atommacht zu sein. Das gefühlte Empowerment der Habenichtse muss aber mit den taktischen Vorteilen der US-Amerikaner ausgewogen werden: für die dominierende Atommacht ist es logistisch und moralisch sehr praktisch, dass sie ihre Waffen vielfältig zum Ziel bringen kann und dabei gleichzeitig die Verantwortung diversifiziert. Ich bin definitiv für den Kauf dieser Jets, aber ich bin gegen die Militarisierung des Begriffs der Teilhabe.


Sadiq Khan, der Bürgermeister von London, spricht von ‚poetic justice‘ und gewährt Flüchtlingen aus der Ukraine Zuflucht in beschlagnahmten Villen russischer Oligarchen. Die Villen stünden ohnehin zumeist leer vor sich hin, es seien keine Wohnungen, sondern ‚gold bricks‘, so Khan. In Biarritz wurde eine Villa mit acht Schlafzimmern von zwei Gelbwesten-Aktivisten gekapert, die umgehend ukrainische Flüchtlinge dorthin einluden. Die Villa gehört (oder gehörte) Putins Tochter Tichanowa. Die Villa wurde auch schon umbenannt, von Villa Altamira in Villa Ukraine. Märchenhafte Nachrichten in Zeiten des Krieges. Allerdings, die Juden wurden auch über Nacht enteignet, weil sie in Ungnade gefallen waren. Was von Putins Krieg kann man einzelnen Russen als Verantwortung anlasten? Es wird Jahrzehnte dauern, ehe man diese Frage beantworten kann.


Wissenschaftler warnen, dass die Sonora-Wüstenkröte vom Aussterben bedroht ist, seit ihr Gift verstärkt von US-Veteranen mit Kriegstraumata, Depressionen, Angstzuständen geraucht wird. Offenbar bietet diese unerhörte Therapie Linderung und sogar Wunderheilung bei tausenden Veteranen, denen die Gesprächstherapie, Medikamente oder neurologische Kliniken nicht helfen konnten. Die armen Kröten sind so innerhalb kürzester Zeit zum Opfer der retreat industry geworden, die rituelle Gruppensessions mit dem gemeinsamen Rauchen des Krötengifts anbietet, laut New York Times zu Preisen zwischen $250 und $8500, je nach Qualität und Intensität der Giftkristalle. Damit schließt sich eine historische Lücke von 500 Jahren, in denen die Kröten vom Menschen weitestgehend in Ruhe gelassen wurden, nachdem sie zuvor im Mittelalter von Hexen, Alchimisten und Schamanen als obligatorische Zutat eines jeden Zaubertranks arg dezimiert worden waren. Damals sollten die Kröten einen spirituellen oder monetären Mehrwert bieten, heute dienen sie der Kompensation psychischer Schäden. Das ist traurig.




READ NEXT: April 2022