April 2022
Der Chefredakteur von BILD, Johannes Boie, ist seit Tagen oder Wochen in der Ukraine unterwegs. Dort, wo die Action ist. Mit schusssicherer Weste und schwarzem Helm liefert er Live-Reportagen aus der Hölle, Karl Kraus hätte eine Fackel damit füllen können. Im Bild präsentiert sich Boie stets mit einer komponierten Geste in der Tradition von Merkels Raute, die bekanntlich einem fernen Equilibrium verpflichtet war. Boie hingegen formt ein Narrativ der gemischten Gefühle, er hält seiner Hände stimmungsvoll vor dem Solarplexus ineinander verschränkt, offenbar innerlich mit sich ringend, aufgewühlt, verkrampft. Seine Geste soll widerstreitende Gefühle zum Ausdruck bringen: Schock, Mitgefühl, Lähmung, Überforderung und Entschlossenheit. Das sind die Emotionen des Krieges für alle, die nicht im Krieg sind. Ein Cocktail aus Fassungslosigkeit, Mitgefühl und Ohnmacht, wobei die Ohnmacht gesellschaftlich nicht vermittelbar ist und deshalb durch Entschlossenheit und Solidarität ersetzt wird. Gemischte Gefühle waren schon immer ein schlechter Ratgeber.
Die FAZ berichtet über eine Buch-Neuerscheinung, die bei Amazon in die Spitzengruppe der Bestseller vorgedrungen ist. Das Buch heißt ‚Kochen ohne Strom: Das Notfallkochbuch - die 50 besten Rezepte für Alltag, Camping und Notfall‘. Sofort aufhorchen ließ mich der Herausgeber: das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, ein starkes Stück! Die Rezepte wurden nicht von den Beamten entwickelt oder bei Survival-Köchen in Auftrag gegeben, sondern partizipativ gesammelt und demokratisch gewählt. Für das Bundesamt ist dies vermutlich der größte kommunikativen Erfolg seit Jahrzehnten, allerdings auf dem falschen Spielfeld. Wer hat im Notfall ein Rezeptbuch dabei? Wer denkt im Falle einer Katastrophe an leckeres Essen? Statt mit Trinkwasser, warmen Decken und Taschenlampen werden die Bürger nun vom Bundesamt mit Ratgeber-Literatur versorgt. Ich hätte mir relevante Informationen gewünscht: wo sind noch stabile Bunker, wo stehen die Notstrom-Aggregate in meiner Nähe? Das Bundesamt hat dem Kampf um die Katastrophe längst aufgegeben, es ist chronisch unterfinanziert. Die ehemalige Infrastruktur der Luftschutz-Bunker wurde seit den 1980er Jahren allmählich den Bedürfnissen der Überfluss-Gesellschaft angepasst, Subkultur und Kunst überlassen, schließlich in Museen oder Urban Farming Spaces verwandelt. In Tel Aviv ist der nächste Bunker zehn Minuten Fußweg entfernt. Bunker ist Alltag in dieser Metropole. Das Kochbuch wirkt vor diesem Hintergrund wie eine zahme Ersatzhandlung. Was machen die Deutschen in der Katastrophe? Sie kochen sich etwas Leckeres ohne Strom.
Der Buchstabe Z wird zunehmend stigmatisiert, weil Putin ihn als Symbol seiner Kriegsmission auserkoren hat. Die Stadt Düsseldorf beispielsweise hat unaufgefordert bekannt gegeben, dass Kfz-Nummernschilder der Kategorie D-Z-XXXX nicht mehr ausgehändigt werden. Als einzelner Buchstabe darf das Z nicht mehr vorkommen. Der Versicherungskonzern Zurich, der das Z in seinem Logo führt, will vorübergehend und vor allem in den sozialen Medien darauf verzichten, weil der Buchstabe Z als ‚Unterstützungssymbol für den russischen Angriff in der Ukraine‘ wahrgenommen wird. Ich denke an die deutsche Bereitwilligkeit, Wörter aufzugeben, die von den Nazis benutzt und deshalb beschmutzt worden sind. Jetzt also Buchstaben. Das Repertoire ist schmal. Wenn IS, die Taliban oder Boko Haram auf die Idee kommen, ihre nächsten Terrorkampagnen mit Buchstaben des abendländischen Alphabets zu etikettieren, geht uns schnell die Sprache aus. Ich hoffe auf Rehabilitierung des Z nach dem nächsten Zorro-Remake.
Ich lese auf einer Kapelle in den Bergen: siamo stati come voi, sarete come noi. Hier sprechen die Toten zu uns: wir sind gewesen wie ihr, ihr werdet sein wie wir. Das ist trivial, aber dennoch ergreifend. So ist es nun einmal, zu jedem Berg gehört ein Tal. Zuhause schaue ich nach, wie viele Menschen bisher gestorben sind, etwa 110 Milliarden, die zu uns, den etwa acht Milliarden Lebenden sprechen. Dreizehn Tote sind auf jeden gekommen, der heute da ist. Nächstes Jahr werden es 14 sein, dann 15. Das Leben häuft immer mehr Tote an, klar, das ist der Lauf der Dinge.
Vom Aussterben bedroht sind: Kopfrechnen, Karten lesen, Einkochen, Schuhe putzen, Strümpfe stopfen, Silber putzen, mit der Hand schreiben, gute Manieren, Bargeld, Fassküfer, Bürsten- und Pinselmacher, Korbmacher, Finanzbuchhalter, Juweliere, Lagerarbeiter, Reisebüros. Man weiß nicht, wofür es gut ist.