Morgenland

Identität und Fortschritt in der arabischen Kultur

Kulturen sind ihrer Natur nach nicht miteinander vergleichbar. Alle Kriterien, auf die wir zurückgreifen könnten, um eine von ihnen zu charakterisieren, entstammen entweder ihr selbst und entbehren daher der Objektivität, oder sie stammen aus einer anderen Kultur und sind deshalb ungeeignet.

  • Claude Lévi-Strauss, Die andere Seite des Mondes

Kulturen sind nicht vergleichbar, aber sehr wohl unterscheidbar. Die Einsicht in die prinzipielle Unangemessenheit eines Vergleichens von Kulturen ist ein Gebot erkenntnistheoretischer Sorgfalt in der Kulturanthropologie, die sich bewusst ist, dass die Kriterien des Vergleichens immer auch Maßstäbe und damit Wertungen sind. Man kann nicht vergleichen, ohne zu werten – und sei es nur durch den Blickwinkel. Während der Vergleich die unterschiedlichen Kulturen wörtlich ‚nebeneinanderstellt’ oder ‚zusammenstellt’ (lat. comparare, comparatio), will das bewusste Unterscheiden sie gerade trennen und auseinanderziehen. Darin ist keine Wertung verborgen, sondern im Gegenteil den unterschiedlichen Kulturen eine je eigene Identität beigemessen und nichts weiter als ihre Nichtidentität festgestellt.

Öffentlichkeit und Individualität

Der naturgemäß augenfälligste Unterschied, der Reisenden aus dem Westen begegnet, ist die Andersartigkeit des öffentlichen Raums und
öffentlichen Lebens. Die Straßen sind menschenleer, niemand geht zu Fuß, außer Touristen aus dem Westen. Es gibt keine Geschäfte oder
Ladenzeilen entlang der Straßen, weil die in Souqs oder Shopping Malls konzentriert sind. Frauen tauchen im öffentlichen Leben sehr selten auf, selbst in Restaurants werden Männergesellschaften und Ausländer von Family Rooms getrennt, die Familienfremden nicht zugänglich sind. Das öffentliche Leben besteht aus Gastarbeitern, die Grünanlagen pflegen. Wer möchte sich tagsüber schon draußen aufhalten, bei 40 oder auch 50 Grad Celsius? In den Abendstunden und rund um einen Souq bevölkern sich dann die Gassen und verströmen das urbane Lebensgefühl einer Gesellschaft, die sich ihrer selbst vergegenwärtigt, allerdings immer noch ohne Frauen. Das öffentliche Leben bildet nicht die ganze Gesellschaft ab. Es bildet auch keine pluralistische Gesellschaft ab, sondern folgt einer ganz anderen Idee, einem anderen Ideal, nämlich dem der Gleichförmigkeit, Homogenität und Verhaltensbegrenzung. Der auffälligste Unterschied zu den Public Spaces westlicher Gesellschaften besteht in der Abwesenheit von zur Schau gestellter Individualität, von Fashion & Style als Ausdruck der eigenen Persönlichkeit.

Der egalitäre Dresscode der männlichen Bevölkerung der Golfstaaten lässt insgesamt nur sehr wenig Spielraum für subtile, differenzierende
Botschaften zur eigenen Individualität oder gar Rückschlüsse auf ihren Lifestyle. Bis auf Gastarbeiter in Arbeitskleidung tragen alle Männer
ausnahmslos ein weißes, lose fallendes, knöchellanges Gewand, die Dishdasha. Je nach lokaler Kultur kann die Dishdasha mit Steh- oder
Hemdkragen, mit Knopfleiste oder gar mit Manschette und Manschettenknöpfen ausgestattet sein. Die Bekleidung gibt keine Anhaltspunkte zur Persönlichkeit ihres Trägers, ermöglicht jedoch eine geographische Zuordnung und dokumentiert eine stammeskulturelle Zugehörigkeit. Auch die Armbanduhr, für westliche Männer ein unverzichtbarer Ausdruck ihrer Kaufkraft, Männlichkeit oder ihres Lebensstils, ist in Arabien eher ein Gleichmacher, weil quasi alle Männer goldene Luxusuhren tragen. Distinktionsbedürfnisse können sich so nur über die Schuhe artikulieren. Ähnlich wie bei Polizisten, die angeblich immer zuerst auf die Schuhe schauen, um sich ein Bild vom wahren Charakter des Verdächtigen zu machen, gleitet der Blick des Betrachters bei der Einschätzung der Frage, wen man vor sich hat, in Doha oder Muscat automatisch nach unten. Tagsüber werden in der Regel Sandalen getragen, wer vor Sonnenuntergang und ohne festlichen Anlass Schuhe trägt, ist offenbar etwas Besonderes. Kantige Individualität oder eine exzentrische Persönlichkeit kann mit Schnürschuhen dokumentiert werden, die ansonsten verpönt sind. Der arabische Mann trägt Smoking Slippers oder Loafers aus Samt oder Wildleder zur Dishdasha, gerne mit Applikationen, Troddeln, Zierperlen oder goldenen Bügeln, allerdings nur bei geschäftlichen Terminen, vielleicht als Tribut und Höflichkeit gegenüber westlichen Gepflogenheiten und westlichen Gesprächspartnern, denen man nicht in nackten Füßen gegenübertreten möchte.

Insgesamt sind es seltene Momente, zu denen man den arabischen Mann nicht in gleichförmigen Sandalen sieht und einen Blick auf die
Wahl seiner Schuhe werfen darf. Aufschlussreich ist die Dominanz des weichen, anschmiegsamen Schuhwerks, feste Sohlen sind die Ausnahme. Selbst Sneakers mit ihren zwar festen, aber doch sehr dünnen Sohlen sieht man im Straßenbild selten. Der Beduine bevorzugt mokkassinartige Slippers oder Loafers. Insofern helfen selbst die Schuhe nicht weiter bei der Suche nach äußeren Anzeichen der inneren Individualität, weil es sich bei den Präferenzen nicht um individuelle Selektion, sondern um Stammesverhalten handelt. Individualität ist nicht sichtbar, jedenfalls nicht im öffentlichen Raum. Der Einzelne ist insgesamt nicht so wichtig, denn „er hat nur insofern Rechte und Pflichten, als er Mitglied einer Gruppe ist“ (Bernhard Lewis: Die Araber). Die Zugehörigkeit zu Gruppen, Stämmen und Regionen ist im Dresscode verankert. Der geübte Beobachter kann schon anhand der Dishdasha die Herkunft erkennen: ohne Hemdkragen (Bahrain), mit Hemdkragen (Katar), mit Stehbündchen (Emirate), mit Knopfleiste und Quaste (Oman). Weitere Auskunft gibt die Kopfbedeckung: ein mit Karos gemustertes, fransengesäumtes Tuch verweist auf Saudi Arabien, bei der Zuordnung der Gutra, einem weißen Tuch, das entweder mit einer schwarzen Kordel um den Kopf gewickelt oder zu einem Turban gebunden werden kann, muss man Insider sein, um die Herkunfts- und Stammeszeichen lesen zu können. Das ist ein wesentlicher Unterschied zur westlichen Kultur. Wen könnte man innerhalb Europas noch anhand seiner Bekleidung seiner Heimat zuordnen?

Idee und Begriff der Öffentlichkeit sind in Arabien verankert. Der öffentliche Raum ist klar und deutlich von Privaträumen unterschieden, es gelten unterschiedliche Normen und Regeln für beide Sphären. Öffentlichkeit ist jedoch keine Bühne für das Individuum und übernimmt
auch nur spärlich politische oder soziale Funktionen. Im Westen ist sie seit dem Strukturwandel der Öffentlichkeit (Jürgen Habermas) erstens
die zentrale Instanz „im Spannungsfeld zwischen Staat und Gesellschaft“ und zweitens Marktplatz für die „Ökonomie der Aufmerksamkeit“
(Georg Franck) einer individualisierten Gesellschaft.

Wüste und Turm

Die Wüste ist kein Raum für die Öffentlichkeit. Offene Marktplätze für die Entfaltung des öffentlichen Lebens verbieten sich schon wegen der
Hitze. Die Wüste fordert zwei gegenläufige architektonische Gesten heraus, geduckte und verschachtelte Häuser, die Schutz vor Hitze, Wind
und Sand bieten, sowie Türme, die hoch aufragen und Orientierung wie Weitblick in der Ebene ermöglichen. Der Turm hat spirituelle Funktionen, weil er den Menschen näher an den Himmel und Gott heranbringt. Er hat auch eine demonstrative Funktion, ist Ausdruck von Macht, Wehrhaftigkeit und Erhabenheit. In der Wüste hat der Turm aber zunächst und zuvorderst klimatische Funktionen zu übernehmen, er kühlt das Innere der Gebäude mit Hilfe des Windes. Windtürme sind in ganz Arabien seit über 1000 Jahren verbreitet und auch beim Bau heutiger Wolkenkratzer macht man sich zusätzlich zu den Klimaanlagen und als Maßnahme der Energieeinsparung dieses alte Prinzip der Windkühlung zunutze. Der Turm ist in der Nomaden- und Beduinenkultur die Keimzelle der Zivilisation, hier kreuzen sich die Wege der Karawanen, hier strebt eine Gesellschaft nach höheren Zielen. Der Turm ist das Gegenteil der permanenten Nivellierung in der ebenen Wüste. Weil Gleichförmigkeit nivelliert, hat Individualität es hier viel schwerer, sich zu behaupten und sich Außenwirkung zu verschaffen. Die visuelle Gleichförmigkeit herrscht schon in der Landschaft und hat den öffentlichen Egalitarismus geprägt wie der Turm die Skylines neuer Zivilisationen und Metropolen am Golf. Der Wunsch nach kultureller Identität auch in modernen Bauten hat in Doha, Dubai und Abu Dhabi die Türme und Hallen mit der Formensprache der Wüste vermählt. Beliebt sind parametrische Architekturen, die eine fließende Form in einem bestimmten Moment einfrieren – die Linien der Dünen am Horizont oder das vom Wind geschmeichelte Beduinenzelt. Der französische Architekt Jean Nouvel baut gerade das Nationalmuseum von Katar in Doha, dessen Form einer Wüstenrose nachempfunden ist. Der Blick des Beduinen ist in der Wüste und bei gleißendem Licht geschult, er ist auf die Konturen der Dinge aus der Ferne ausgerichtet, ein kulturelles, visuelles Erbe der Beduinen, das heute von der Wüste in die Metropole übertragen wird. Die Fernwirkung ist von überragender Bedeutung, man erwartet Unterscheidbarkeit der Silhouetten am Horizont, auch bei Gegenlicht – und selbstverständlich auch nachts, wenn jeder Wolkenkratzer seine eigene Lichtsignatur emittiert. Wüste und Turm sind Antipoden, die weite Ebene hier, das Aufbegehren der Vertikalen dort. Die höchsten Häuser der Welt werden mittlerweile hier errichtet. Saudi Arabien baut bei Dschidda das erste Gebäude der Welt, das höher als 1.000 Meter ist, 1.007 Meter nämlich. Ein noch höherer Turm ist bereits in Planung.

Sprache und Ornament

Zwei Hauptunterschiede gebe es zwischen dem östlichen und westlichen Denken, so Lévi-Strauss, die Ablehnung des Subjekts und die Ablehnung der Rede im Orient gegenüber ihrer Wertschätzung im Westen: „Seit den Griechen glaubt das Abendland, dass der Mensch die Fähigkeit besitzt, die Welt zu erfassen, indem er die Sprache im Dienst der Vernunft benutzt: Eine wohlgebaute Rede stimmt mit dem Realen überein, sie trifft die Ordnung der Dinge und spiegelt sie wider. Im Gegensatz dazu ist der östlichen Auffassung zufolge jede Rede dem Realen unwiderruflich nicht adäquat.“ Über die Ablehnung des Subjekts und das Primat der Stammeszugehörigkeit haben wir gesprochen.

In der Haltung zur Sprache und der Sprachpflege sehen Sprach- und Kulturwissenschaftler, aber auch Soziologen, Philosophen und Anthropologen den wichtigsten Grund für die unterschiedliche Modernisierungsdynamik zwischen Abendland und Morgenland in den letzten 150 Jahren. Die Stagnation des Denkens lasse sich auf die sprachkulturelle Versiegelung der Zeit zwischen 1200 und 1400 zurückführen, glaubt der Historiker Dan Diner, die Unantastbarkeit und Sakralität der Sprache des Korans gestatte keine Entwicklung des Hocharabischen. Auch die regionalen Umgangssprachen bieten keinen Raum für eine dynamische Weltaneignung durch Spracherfahrung, denn sie werden nicht verschriftlicht, es können sich keine „angemessenen Sprachspeicher“ für profane Lebenswelten entwickeln. Die Exegese des Korans war zur Zeit der Kulturblüte facettenreich, von vielen Textvarianten angereichert und letztlich der Interpretation einer Zeit und eines Interpreten unterworfen. Die Festschreibung des Korans und die Eliminierung von Varianten ist eine Entwicklung der letzten 150 Jahre, der Arabist und Islamwissenschaftler Thomas Bauer spricht von einem Verlust der ‚Ambiguitätstoleranz’. Mehrdeutigkeit war schon immer ein Feind der Ideologien. In dem Maße, in dem die Interpretation des Korans gerade in den letzten Jahrzehnten zunehmend vereinheitlicht und die Bedeutung der Sätze festgeschrieben wurden, ist der Wirklichkeitsbezug des restlichen Sprechens gesunken, es ist allenfalls von zweitrangiger Bedeutung gegenüber den heiligen Sätzen. Die Sprache des Korans wird als präzise empfunden, das restliche Sprechen ist leider mehrdeutig und deshalb wenig geeignet, der Wirklichkeit gerecht zu werden. Man spürt diese Haltung sehr deutlich im Alltag. Der unausrottbare Wunsch westlicher Gesprächspartner nach begrifflicher Klarheit und Trennschärfe perlt von den freundlichen Antworten der Araber immer wieder ab. Sie bieten so lange unterschiedliche Formulierungen an, bis der westliche Gesprächspartner endlich zufrieden ist, ohne darin einen begrifflichen Konsens oder eine Übereinstimmung in der Analyse zu entdecken. Sprechen hat eher einen rhetorischen Stellenwert, es begleitet die Wirklichkeit mit Intentionen des Sprechers, bildet sie aber nicht ab. Das Wesentliche wird gerade nicht gesagt, weil man es nicht sagen kann oder aus Rücksichtnahme nicht sagen darf. Das Zwischen-den-Zeilen-Lesen hat sich so zu einer zentralen Kulturtechnik der arabischen Welt entwickelt und ist an die Stelle von Sprachanalyse und Hermeneutik getreten. Was der Westen Philosophie nennt, findet mit Hilfe von sprachlichen Begriffen statt. Es ist kein Wunder, dass es schwerfällt, Brücken zwischen der westlichen und östlichen Philosophie zu entdecken, wenn schon im Medium des Philosophierens so fundamentale Unterschiede bestehen. Auch das öffentliche Sprechen bewegt sich nah am Märchenhaften. Mit Ausnahme des von Katar initiierten und finanzierten Medienhauses Al-Jazeera, das Journalismus auf Basis internationaler Standards betreibt, handelt es sich bei Nachrichtenmagazinen und Tageszeitungen eher um Public-Relations-Postillen, die staatliche oder wirtschaftliche Errungenschaften, Rekorde und Visionen in affirmativem Tonfall vermelden.

So berichtet die Oman Times beispielsweise fast täglich über die Glückwunsch-Depeschen, die Sultan Qaboos an Präsidenten und befreundete Völker schickt; er gratuliert dem neuen argentinischen Staatspräsidenten zu seiner Wahl, dem pakistanischen Volk zum Nationalfeiertag, er dankt allen Pakistanis im Oman, er wünscht dem freundlichen griechischen Volk und seiner neuen Regierung alles erdenklich Gute auf ihrem steinigen Weg. Am Tag darauf meldet die Oman Times dann ordnungsgemäß, was geantwortet wurde. So bedankt sich der neue argentinische Präsident herzlich für die guten Wünsche von Sultan Qaboos aus dem Oman, er habe sich darüber ganz besonders gefreut, weil er den Omani als einem so friedlichen und freundlichen Volk überaus verbunden sei. Die Rubrik befindet sich oben links auf der Titelseite, der Tag beginnt schon märchenhaft. Die so unterschiedliche Sprachkultur Arabiens wird umso deutlicher, wenn wir auf das visuelle Erscheinungsbild der Sprache, die Schrift schauen, die selbst bereits kalligraphisch, also schön geschrieben ist. Das Bildhafte der Sprache wird schon in der Schrift abgebildet. Der Kalligraphie als Kunstform wird besondere Achtung entgegengebracht, weil der Kalligraph das Wort Gottes bildhaft verschönert. Bildhaft ist nicht sinnhaft, beides schließt einander aus. Der Übergang zwischen Kalligraphie und einander überlagernden, miteinander verflochtenen Ornamenten ist zuerst in der Buchkunst, dann in der Architektur zu besichtigen. Das ornamentale Potential der Schriftsprache dominiert die visuelle Kultur bis heute. Neben dem Prinzip der Bildvermeidung, das figurative Darstellungen zwar nicht verbietet, aber an den Rand drängt, sind es Kalligraphie, Arabesken (Rankenornamente) und geometrische, symmetrische Muster, die für islamische Kunst stehen. Die Ornamente sind inzwischen ebenso kanonisch wie die Lesart des Korans. Sie werden nach historischen Vorbildern angelegt und sind Teil der visuellen Identität. Aufgrund des großen Bedarfs an reichhaltig verzierten Flächen sind die ehemaligen Handwerkskünste mittlerweile industrialisiert worden. Die zahlreichen Holzportale der Sultan Qaboos Moschee in Muscat, 2001 eröffnet, wurden mit Hilfe von 3D-Laserfräsen in kalligraphische und ornamentale Profilflächen verwandelt. Wie der Moscheebau
insgesamt ist auch die permanente Reproduktion historischer Muster längst industrialisiert worden. Die Formensprache der arabischen Traditionslinien wird konserviert, Innovationen sind nicht erwünscht, sie könnten als Aufweichen oder Verfremdung eigener Identität angesehen werden Die Allgegenwart der immergleichen Arabesken und Ornamente verstärkt den Eindruck, dass Einzigartigkeit in dieser Kultur generell nicht willkommen ist. Wie schon die Kleiderordnung die Distinktion der Individuen verhindert, nivelliert auch die Dekoration Unterschiede zwischen Orten und gleicht sie einander an. Auch hier erscheint wieder das Prinzip der Verhaltensbegrenzung, das nicht allein im Verhältnis der Geschlechter, in der Kleiderordnung und im schwach ausgeprägten Individualismus sichtbar wird, sondern auch im Interior Design.

Identität und Fortschritt

Kommen wir zurück auf Sultan Qaboos, der als Figur wie kein anderer geeignet ist, das arabische Verhältnis zu Identität und Fortschritt
zu illustrieren. Im Bait Al Zubair Museum in Muscat hängt ein großes Bild, das die wesentlichen Meilensteine im Leben und Wirken von Sultan
Qaboos darstellt. Man sieht ihn als Jungen mit Pferden und Falken, als jungen Mann in der Marine und drei Stationen aus dem Erwachsenenalter: Sultan Qaboos baut zuerst Straßen und Brücken durch die Wüste, dann Kraftwerke, Strommasten, Schulen, Krankenhäuser und schließlich eine große Moschee und ein Opernhaus. Das ist Fortschritt, er hat sich für jedermann erlebbar in den letzten 30 Jahren ereignet. Strom ist Fortschritt. Das hatte schon Lenin mit seinem berühmten Zitat erkannt: Kommunismus, das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes. Es scheint für den Absolutismus gleichermaßen zu gelten wie für den Kommunismus. Infrastruktur ist ebenfalls Fortschritt, es gibt jetzt neue Mikrozentren der Zivilisation überall im Oman, es sind Tankstellen nebst Funkmasten für die Mobiltelefonie sowie einer kleinen Moschee für das schnelle Gebet auf Reisen und einem Fast Food Restaurant, häufig einer Kentucky Fried Chicken Station. Das Hühnchen hatte beim Markteintritt vermutlich natürliche Vorteile. Neben Strom und Infrastruktur wird vor allem Bildung als Fortschritt empfunden. Das Schulsystem ist inzwischen lückenlos, die Kinder werden mit Bussen von abgelegenen Wohnorten abgeholt. Bei den Schul- und Hochschulabschlüssen dominieren die Frauen deutlich, sie machen rund 70 Prozent aller Abschlüsse aus. Die Quoten sind in den Emiraten ähnlich, es wächst eine Generation gut bis sehr gut ausgebildeter Frauen heran. Gleichzeitig gilt aber, dass die höchste Reputation älterer Frauen darin besteht, möglichst viele Söhne zu haben. Identität und Fortschritt prallen hier aufeinander, aber nur für westliche Augen. Das bloße Nebeneinander von Tradition und Fortschritt bereitet nur den westlichen Beobachtern Kopfschmerzen. Wo diese verzweifelt nach der Überwindung vermeintlicher Widersprüche oder nach Synthesen suchen, handelt es sich in der arabischen Kultur bei Tradition und Fortschritt um unterschiedliche Geltungsbereiche, die unabhängig voneinander existieren und keiner Synthese bedürfen. Tradition ist kein dynamischer Kontext, sondern die immerwährende Identität der Beduinen: Wüste und Turm, schwarz und weiß, Homogenität, Egalitarismus und Verhaltensbegrenzung, Kalligraphie und Ornamente. Die Wüste lebt sozusagen weiter, auch in den Städten. Der Fortschritt hingegen ist ein recht neues Phänomen, er bietet Alltagsnutzen, hat aber nichts mit Weltanschauungen und erst recht nichts mit der eigenen Kultur zu tun, der dieser Fortschritt auch nicht entstammt.

Säkularisierung und Smartphone

Die Unterschiede zwischen der arabischen und westlichen Kultur sind anhand der Orientierungsbegriffe Öffentlichkeit, Individuum, Sprach- und Bildkultur sowie dem Fortschrittsbegriff deutlich hervorgetreten. Dort, wo Unterschiede am ehesten erwartet werden, in der nicht vorhandenen Säkularisierung der arabischen Gesellschaften und einer im Gegenteil sich verschärfenden Theologisierung nämlich, treten sie erstaunlicherweise kaum zutage. Quer durch die Schichten der Bevölkerung findet sich ein sehr liberaler Umgang mit den Forderungen der Religion. Am Ende des Tages darf der gläubige Muslim die Dinge zwischen sich und seinem Gott ausmachen, ob er Alkohol trinkt oder nicht zum Beispiel. Es gibt eigentlich nur fünf Regeln, die beachtet werden sollten, aber nicht immer müssen: einmal im Leben Mekka besuchen (das schafft nur jeder zehnte Muslim), fünfmal am Tag beten (oder dreimal, wenn man auf Reisen ist), den Fastenmonat Ramadan einhalten (der aber individuell verlegt werden darf, wenn es gerade nicht passt), das Bekenntnis zum Koran sowie die Pflicht, Almosen an Bedürftige zu geben. Das alles lässt sich wunderbar mit der Logik des Kapitalismus vereinen, Geld scheint vielen wichtiger zu sein als Gott. Die Tribute an die Religion sind eher Rituale und Konformismus, kaum leidenschaftlich oder gar fundamentalistisch. Die vermeintlich übermächtige Prägung des gesellschaftlichen und individuellen Lebens durch den Islam ist nur bei der Geschlechtertrennung klar erkennbar, in allen anderen Bereichen wirken die Gesellschaften nicht minder säkular als im Westen. Das Smartphone wird diese Säkularisierung weiter vorantreiben, es ist der große Gleichmacher der Kulturen, der eines Tages Claude Lévy-Strauss widerlegen wird

(2016)